Was bedeutet es Hexe zu sein?
- Kathrin Sanmann-Lehmann
- 18. März 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Juni 2024
Lässt man mal all die feministischen, die christlich geprägte Verzerrung in der Märchenwelt, all die modernen Interpretationen der Popkultur, die Romantisierungen, Archetypisierung und Idealisierungen, aber auch das Bild der Bibi-Blocksberg-Hexe weg, haben wir eine Gruppe von Menschen, die ein Interesse an okkulten und spirituellen Praktiken haben.
Das klingt zunächst obskur, wenn man diese Gruppe von Menschen durch die Brille des christlich geprägten Europas sieht.
Und damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Allen Hexen ist gemein, dass sie eine andere, tiefe Verbindung empfinden zu etwas, was ihnen in den monotheistischen Religionen verstellt wird. In den allermeisten Fällen geht es für diese Menschen nicht um etwas, was sie begehren, sondern um den Ausdruck eines lebendigen Dialogs. Ein Dialog, der genauso vielseitig und lebhaft ist, wie jener, der in der breiten Gesellschaft über die Weltreligionen akzeptiert ist.
Die gesellschaftlich etablierte Hauptreligion reicht den Hexen nicht, um sich in ihr Auszudrücken, weil z.B. die Rolle der Frau unterdrückt und die Natur überwiegend verwaltet und beherrscht wird und nicht zuletzt, weil der Verbreitungsgedanke der monotheistischen Religionen noch heute Menschen dazu bringt, zwar z.B. von der Liebe Jesu zu reden, aber anders Denkende pauschal abzuwerten. Das ist keine Nächstenliebe und auch keine Toleranz, im Gegenteil: Es schafft Distanz.
Schauen wir genauer in die Geschichte Europas, haben die neopaganen Strömungen keine fremde, neu erfundene Sehnsucht nach etwas „Abenteuerlichem“, sondern fühlen sich genauso, wie jede andere Kultur, zu der Verwirklichung und Spiritualität ihrer eigenen, indigenen Wurzel hingezogen.
Denn fernab jeder Romantisierung: Vor der Christianisierung Europas, initialisiert durch die Kolonialisierung durch die damalige, römische Weltmacht und später zur Zeit von Karl dem Großen verstärkt, existierten in Europa längst indigene Hochkulturen, deren überwiegender Teil der Priester und Herrscher ausgelöscht wurden. Wir sprechen hier davon, dass sowohl der keltischen als auch der germanischen Kultur ihre Wurzeln und damit ihre Identität entrissen, eine Zwangsreligion eingeführt, die Kultschätze geraubt oder zerstört wurden und das weiter tragen jenes kulturellen Wissens mit Folter, öffentlicher Demütigung und grausam inszenierten Hinrichtungen geahndet wurden.
-Wer würde ein solches Verhalten heute akzeptieren? Und wer würde heute davon ausgehen, dass ein derartiger Identitätsverlust einfach mit einer neuen, unfreiwilligen Identität befriedigt werden kann?
Identität ist etwas, was aus einem inneren Lernprozess entsteht, nicht etwas, was durch Zwang aufgesetzt wird. Genau hier befindet sich die Urwunde der indigenen Kulturen Europas.
Es ist ein Irrglaube, das der Mensch erst zu etwas "brauchbaren" geformt werden muss. Die gegenwärtige Pädagogik weiß längst das der Mensch nicht zu jemanden wird, sondern bereits bei der Geburt ist und es lediglich darum geht, dem Menschen zu helfen sich selbst zu entdecken und seine Ressourcen geschickt zu nutzen. Deswegen kann Spiritualität auch nicht ab- oder anerzogen werden, sondern ist etwas, das der Mensch in sich mitbringt und im Laufe seines Lebens von ihm oder ihr erkundet wird. Es ist ein Erfahrungs-, kein Regel-Weg.
Genauso, wie andere Urvölker nicht zufrieden sind, wenn man ihre Riten verbietet, sie verzerrt oder gar das Nachgehen dieser bestraft, sind Hexen es auch. Mit dem Unterschied, dass die keltische und germanische Kultur die ersten Opfer der Christianisierung waren und dadurch, dass sie überwiegend keine Schriftkulturen waren, und Zeitzeugen kein Interesse an neutraler Berichterstattung hatten, es ungleich schwerer ist aus den volkstümlichen und archäologischen und Überresten ein sinnvolles Puzzle zusammenzusetzen.
Aber nichtsdestotrotz: das, was hier passiert, ist eigentlich der Versuch, eine authentische Identität zu bilden, sich in sich selbst zu Verwurzeln und das was heute Relevanz und Tragfähigkeit hat zu regenerieren. Und dank unserer vernetzten Welt, ist das rekonstruieren auch möglich. Mit Nichten in der Bandbreite wie es einst war und in anderen indigenen Kulturen ist, aber es ist ein Ansatz, an dem man arbeiten kann.
Natürlich hat das zur Folge, das mit Konzepten experimentiert wird, dass sich Systeme nicht fixiert, sondern im permanenten Wandel befinden und dass auch extreme Gesinnungen, genauso wie in anderen Gruppierungen, sich dazu gesellen können, -nur um dann reflektiert und aussortiert zu werden. Aber so funktioniert lernen.
Hexe zu sein bedeutet, pragmatisch ausgedrückt, sich in vielerlei Hinsicht, sich mit sich selbst, dem was man als göttlich benennt und seiner direkten Umwelt ununterbrochen bewusst auseinander zu setzten.